2020/2016 ︎
Zurück
in Wien – Körperadaptierungen in öffentlichen Räumen
︎
Intervention︎
3
großformatige Poster aus einer Serie von 9 Fotografien︎3 m x 4 m︎Portikus
Museumsquartier, Wien
Zurück in Wien – Körperadaptierungen in öffentlichen Räumen
Intervention, Portikus Museumsquartier, Wien
3 großformatige Poster aus einer Serie von 9 Fotografien, 2016/2020
3 m x 4 m
Die komplette 9-teilige Serie erschien als Kunst-Beilage im Augustin, Nr. 509 (Juli, 2020), Ed. 22.000
WIEDER
IN DER WELT SEIN
Anmerkungen zu Johanna Tinzls Fotoserie von Anne Faucheret
Ein Waldstück in den Hügeln über Wien.
Eine dekorative Skulptur in einem Park in der Nähe ihrer Wohnung.
Die Außenwand der Integrationsschule ihrer Tochter.
Die Schwelle zu ihrem jetzigen Zuhause.
Die Stiege im Haus, in dem ihre Freundin wohnte.
Die Stufen, die zur Praxis des Coachs ihrer Tochter führen.
Die Volksschule, die sie als kleines Mädchen vor ihrer Flucht besuchte.
Die Fassade des Gebäudes in der Innenstadt, in dem ihr Mann arbeitete.
Balkon und Fenster des Hauses, das ihrem Vater gehörte.
Das alles sind Orte, an die Helga Pollak-Kinsky zurückkehrt. Die 1930 in Wien als Tochter jüdischer Eltern geborene Helga Pollak-Kinsky überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz.
Nach 1945 lebte sie zunächst in London, dann in Bangkok und Addis Abeba, bevor sie 1957 in ihre Geburtsstadt zurückkehrte, wo ihr Vater, ehemals Eigentümer des beliebten Tanzcafé Palmhof in der äußeren Mariahilfer Straße, noch immer wohnte. Das Wien der Nachkriegszeit war von einem Grauen erfüllt, das sich einschlich in Körper und Architektur, in Bewegungen und Worte. Der öffentliche Raum war nicht der sichere Ort, den die junge Zweite Republik versprochen hatte. Verbrechen der Vergangenheit wurden nicht oder zu milde bestraft. Führende Nazis und Kollaborateur:innen wurden wieder in das politische System eingegliedert, Holocaustüberlebende dagegen ins Abseits gedrängt und nicht gehört. Erinnerungsarbeit fand nicht statt.
Auf den folgenden Seiten sehen Sie die Figur einer älteren Frau, Angehörige einer zur Unsichtbarkeit verdammten – und jüngst besonders gefährdeten – Generation. Sie steht da, lebt, lacht. Sie verkörpert das Älterwerden als ein
Anmerkungen zu Johanna Tinzls Fotoserie von Anne Faucheret
Ein Waldstück in den Hügeln über Wien.
Eine dekorative Skulptur in einem Park in der Nähe ihrer Wohnung.
Die Außenwand der Integrationsschule ihrer Tochter.
Die Schwelle zu ihrem jetzigen Zuhause.
Die Stiege im Haus, in dem ihre Freundin wohnte.
Die Stufen, die zur Praxis des Coachs ihrer Tochter führen.
Die Volksschule, die sie als kleines Mädchen vor ihrer Flucht besuchte.
Die Fassade des Gebäudes in der Innenstadt, in dem ihr Mann arbeitete.
Balkon und Fenster des Hauses, das ihrem Vater gehörte.
Das alles sind Orte, an die Helga Pollak-Kinsky zurückkehrt. Die 1930 in Wien als Tochter jüdischer Eltern geborene Helga Pollak-Kinsky überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz.
Nach 1945 lebte sie zunächst in London, dann in Bangkok und Addis Abeba, bevor sie 1957 in ihre Geburtsstadt zurückkehrte, wo ihr Vater, ehemals Eigentümer des beliebten Tanzcafé Palmhof in der äußeren Mariahilfer Straße, noch immer wohnte. Das Wien der Nachkriegszeit war von einem Grauen erfüllt, das sich einschlich in Körper und Architektur, in Bewegungen und Worte. Der öffentliche Raum war nicht der sichere Ort, den die junge Zweite Republik versprochen hatte. Verbrechen der Vergangenheit wurden nicht oder zu milde bestraft. Führende Nazis und Kollaborateur:innen wurden wieder in das politische System eingegliedert, Holocaustüberlebende dagegen ins Abseits gedrängt und nicht gehört. Erinnerungsarbeit fand nicht statt.
Auf den folgenden Seiten sehen Sie die Figur einer älteren Frau, Angehörige einer zur Unsichtbarkeit verdammten – und jüngst besonders gefährdeten – Generation. Sie steht da, lebt, lacht. Sie verkörpert das Älterwerden als ein
»In-der-Welt-Sein«
und nicht als das einsame Elend, als welches
die kapitalistischen Ökonomien es zeichnen. 1970 verurteilte die
feministische Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem Buch Das Alterdie institutionalisierte Nekropolitik älteren Menschen gegenüber:
Vernachlässigung, Unsichtbarmachung und Segregation, die
unweigerlich zu Verfall, Demenz und Tod führen, ohne dass es
irgendjemand bemerkt. De Beauvoir forderte einen vollständigen
Wandel des Denkens, eine Wiedereinbindung der Älteren in den
Gesellschaftsvertrag und eine Wiederbesinnung auf das Leben in der
Gemeinschaft anstelle der Betonung der Individualität. In diesem
erneuerten Gesellschaftsvertrag wäre die immer wieder andere Lesart,
Kontextualisierung und Deutung von Geschichten (einschließlich der
Geschichten von Frauen) eine künstlerische und öffentliche
Angelegenheit.
Die Fotoserie Zurück in Wien – Körperadaptierungen der Künstlerin Johanna Tinzl entstand 2016. Sie besteht aus neun fotografischen Porträts von Helga Pollak-Kinsky, die Tinzl im Verlauf eines eineinhalb Jahre dauernden Prozesses realisierte. Für diese Fotografien wählte die Porträtierte neun Orte in der Stadt Wien aus, an denen sie einst gelebt oder die sie regelmäßig besucht hatte.
Die Fotoserie Zurück in Wien – Körperadaptierungen der Künstlerin Johanna Tinzl entstand 2016. Sie besteht aus neun fotografischen Porträts von Helga Pollak-Kinsky, die Tinzl im Verlauf eines eineinhalb Jahre dauernden Prozesses realisierte. Für diese Fotografien wählte die Porträtierte neun Orte in der Stadt Wien aus, an denen sie einst gelebt oder die sie regelmäßig besucht hatte.
Bedeutsame Orte, die sie mit bestimmten Entscheidungen
verband, mit besonderen Beziehungen, mit schmerzhaften Gefühlen
oder solchen, die ihr neue Kraft gegeben hatten, mit traurigen oder
glücklichen Erinnerungen. Zusammen mit der Künstlerin kehrte
Helga Pollak-Kinsky an diese ausgesuchten Orte zurück und vollzog
Wiedersehensrituale, indem sie Gesten und Haltungen schuf, zu denen
sie von einer anderen Fotoserie angeregt wurde: den
Körperkonfigurationen (1972–1976) von VALIE EXPORT, in denen die
österreichische Medienkünstlerin Präsenz und Repräsentation
für den weiblichen Körper im städtischen öffentlichen Raum und
in der Gesellschaft insgesamt einforderte.
Entscheidend ist dabei, dass aus ihren Körpereinpassungen ein doppelter Blick zu sprechen scheint: eine Fürsorge für sich selbst ebenso wie für die Orte ihres Handelns, deren Erinnerungen sie damit ebenfalls zum Leben erweckt. Heute, da die Vorstellung vom öffentlichen Raum nach Wochen des Eingeschlossenseins in privaten Räumen (für die, die es sich leisten konnten) eine radikale Verwandlung erfährt, ist es entscheidend, ihn als Forum für gesellschaftlichen Austausch und kulturellen Ausdruck neu in Besitz zu nehmen.
Für wen ist der öffentliche Raum ein sicherer Ort, für wen ist er ein Quell von Gefahren? Für wen ist er ein Raum der Freiheit, für wen einer des Zwangs zur Anpassung und der Einschränkungen? Wer ist im öffentlichen Raum repräsentiert, wer wird aus ihm getilgt? Welche Geschichten, welche Figuren werden erzählt und in Umlauf gebracht, welche werden entfremdet, vereinfacht, marginalisiert oder verdeckt?Vor Kurzem fühlte es sich so an, als sei die Angst überall, facettenreich und undurchdringlich. Aber die Angstgemeinschaft darf nicht an die Stelle einer politischen Gemeinschaft treten. Deshalb gilt es nun, die Angst zu überwinden oder wenigstens in ihre Bestandteile zu zerlegen.
Genau diesen Kampf gegen die Angst führte auch Helga Pollak-Kinsky über Jahrzehnte – seit 1957, dem Jahr ihrer Rückkehr nach Wien, in die Stadt, die sie 1938 hatte verlassen müssen. Beinahe sechzig Jahre später, als Johanna Tinzls Fotoprojekt 2016 abgeschlossen war, konnte Helga Pollak-Kinsky, die mittlerweile auf die 90 zuging, sagen, dass die Angst sie endlich verlassen hatte.
Leider ist Helga Pollak-Kinsky am 14. November 2020 verstorben. (Addendum)