2024 ︎ In the Wake of the Tipping Point
︎Installation︎Skulpturen︎ 4K-Video ︎ Schneedepotmatten
In the Wake of the Tipping Point
Installation, 2024
Skulpturen, 4K-Video, Schneedepotmatten
Mit
der Einführung des Begriffs Anthropozän zu Beginn des 21.
Jahrhunderts hat unser Verständnis von Natur einen einschneidenden
Perspektivenwechsel erfahren. Er steht für die wissenschaftliche
Belegbarkeit, dass »die geologischen Auswirkungen kolonialer und
industrieller Aktivitäten des Menschen auf die natürlichen Systeme
der Erde«1 derart umfassend sind, dass sie sich als geologische Epoche
definieren lassen. Als Konzept durchaus umstritten, da
es die sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Auswirkungen des
menschlichen Einflusses auf den Planeten nicht berücksichtigt, wurde
das Anthropozän dennoch zu einem wichtigen Schlagwort für die
tiefgreifenden Verflechtungen von Mensch und Natur. Es hat sich als
produktiver Impulsgeber für an Politik- und Ökologie interessierte
Kunstschaffende erwiesen, und als Vermittler zwischen Kunst,
Wissenschaft und Technologie stößt es künstlerisch-forschende
Methoden und interdisziplinäre Strategien an.
Als Tipping Point oder Kipppunkt bezeichnet die Klimaforschung einen kritischen Moment, ab dem eine Entwicklung irreversibel ist oder so stark beschleunigt wird, dass sie ein System zum Kollabieren bringt. Im Alpenraum stellt das Schmelzen der Gletscher einen solchen Kipppunkt im Sinne der Wasserversorgung dar. Dem widmet sich Johanna Tinzls Werkgruppe
Ihre Materialien wählt Johanna Tinzl mit Bedacht und setzt sie als widerständige Akteure ein, um globale und lokale Dimensionen ökologischer und technologischer Prozesse sichtbarzumachen. Der Alabastergips etwa ist ein Naturprodukt und ermöglicht nachhaltiges Arbeiten vor Ort, ohne schädliche Rückstände auf dem Gletscher zu hinterlassen. Die Skulpturen selbst bestehen aus Beton, dessen Produktion für 9% aller menschlichen CO2-Emissionen verantwortlich ist. Die im Ausstellungsraum verlegten Schaumstoffmatten mit Aluminiumbeschichtung repräsentieren nicht nur den Berg aus Plastik, den wir Konsument:innen produzieren, sondern verweisen auch auf das Mikroplastik, das sich bereits in großen Mengen auf Gletschern findet.
Der Arbeitsprozess ist körperlich fordernd, nahezu performativ: die Künstlerin und ihre Begleiter:innen transportieren die Formen und Materialien für die bis zu 20 Kilo schweren Abgüsse auf den Rücken geschnallt zum Gletscher. Dabei legen sie Strecken von bis zu 700 Höhenmetern zurück. Das mit den Erfahrungen von Distanz, Höhe, Kälte, Wind und Sonneneinstrahlung geformte Körperwissen fließt in die Arbeiten mit ein. Die Skulpturen sind Ergebnis eines künstlerischen Transformationsprozesses, der auf Berührung und Übersetzung basiert, und den Gletschern eine andere, weniger prekäre Körperlichkeit verleiht. Die geschmiedeten Beine ähneln denen von Insekten und vermitteln Lebendigkeit. So formen die Skulpturen eine imaginierte Gemeinschaft, die uns daran erinnert, welch fragile Wesen und komplexe Ökosysteme Gletscher darstellen, und wie eng wir mit ihnen verbunden sind. Zugleich verweist die in einer momenthaften Aufnahme skulptural fixierte Gestalt der Gletscher auf die unmögliche Aufgabe einen von konstanter Veränderung geprägten Prozess des Verschwindens zu archivieren.
Als Tipping Point oder Kipppunkt bezeichnet die Klimaforschung einen kritischen Moment, ab dem eine Entwicklung irreversibel ist oder so stark beschleunigt wird, dass sie ein System zum Kollabieren bringt. Im Alpenraum stellt das Schmelzen der Gletscher einen solchen Kipppunkt im Sinne der Wasserversorgung dar. Dem widmet sich Johanna Tinzls Werkgruppe
»Das
Archiv des Verschwindens«. Seit 2019 archiviert die Künstlerin mittels Abgusstechnik die
Topografien und Oberflächen rasch schrumpfender Gletscher und
übersetzt sie in Skulpturen. Die Serie umfasst fünf Abformungen:
den Sólheimajökull auf Island (2019), den Gepatschferner
(Kauntertal, 2020), den Schalfferner (Ötztal, 2021), die Pasterze
(Glocknergruppe, 2022), und den Vermuntgletscher (Silvretta, 2023).
Für ihre Recherche hat die Künstlerin auf Daten von Glaziolog:innen
und auf Luftbilder öffentlicher Geodatendienste zurückgegriffen, um
die Umrisse anhand der Messungen des Vorjahres zu ermitteln. Diese
werden in eine maßstabsgetreue Form übersetzt und mit Alabastergips
vor Ort auf dem Gletscher ausgegossen. Die Oberfläche der Abformung
entspricht der tatsächlichen Eisoberfläche.
Ihre Materialien wählt Johanna Tinzl mit Bedacht und setzt sie als widerständige Akteure ein, um globale und lokale Dimensionen ökologischer und technologischer Prozesse sichtbarzumachen. Der Alabastergips etwa ist ein Naturprodukt und ermöglicht nachhaltiges Arbeiten vor Ort, ohne schädliche Rückstände auf dem Gletscher zu hinterlassen. Die Skulpturen selbst bestehen aus Beton, dessen Produktion für 9% aller menschlichen CO2-Emissionen verantwortlich ist. Die im Ausstellungsraum verlegten Schaumstoffmatten mit Aluminiumbeschichtung repräsentieren nicht nur den Berg aus Plastik, den wir Konsument:innen produzieren, sondern verweisen auch auf das Mikroplastik, das sich bereits in großen Mengen auf Gletschern findet.
Der Arbeitsprozess ist körperlich fordernd, nahezu performativ: die Künstlerin und ihre Begleiter:innen transportieren die Formen und Materialien für die bis zu 20 Kilo schweren Abgüsse auf den Rücken geschnallt zum Gletscher. Dabei legen sie Strecken von bis zu 700 Höhenmetern zurück. Das mit den Erfahrungen von Distanz, Höhe, Kälte, Wind und Sonneneinstrahlung geformte Körperwissen fließt in die Arbeiten mit ein. Die Skulpturen sind Ergebnis eines künstlerischen Transformationsprozesses, der auf Berührung und Übersetzung basiert, und den Gletschern eine andere, weniger prekäre Körperlichkeit verleiht. Die geschmiedeten Beine ähneln denen von Insekten und vermitteln Lebendigkeit. So formen die Skulpturen eine imaginierte Gemeinschaft, die uns daran erinnert, welch fragile Wesen und komplexe Ökosysteme Gletscher darstellen, und wie eng wir mit ihnen verbunden sind. Zugleich verweist die in einer momenthaften Aufnahme skulptural fixierte Gestalt der Gletscher auf die unmögliche Aufgabe einen von konstanter Veränderung geprägten Prozess des Verschwindens zu archivieren.
Der
Kurzfilm »Activate
the Good Spirits, Haunt the Toxic Ghosts«
(2024) nähert sich dem Wesen der Gletscher und der von ihnen
geformten Landschaft als spekulative Science-Fiction Erzählung.
Diese wird von einem Kollektiv aus mythologischen Figuren der alpinen
Sagenwelt und post-humanistischen Wesen bevölkert. Wir begegnen in
die Zukunft transformierten Gestalten, wie der queer gelesenen,
mythischen »Saligen«, dem »Gletscherbären« und dem
»Baummenschen«, die auf die Tiroler Fasnacht und heidnische Bräuche
zurückgehen.
Mit
der »Wolke« und dem »Radioaktiv-verstrahlten
Fisch«, beide von anthropozentrischen Einflüssen kontaminiert, beide von anthropozentrischen Einflüssen kontaminiert, bilden sie
eine Gemeinschaft nomadischer Subjekte. Der sichtbar geschrumpfte
Gletscher, dessen Spuren sich in die Landschaft eingeschrieben haben,
kommt mittels Drohnenaufnahmen ins Bild, die eine überhöhte,
vermeintlich unberührte, archaische Natur zeigen.
Das Kollektiv scheint gut an die klimatischen Bedingungen in dieser Landschaft angepasst, doch der Grund für seine Anwesenheit bleibt unserer Imagination überlassen. Handlungen der Wesen können gleichermaßen als wissenschaftliche Methoden, heilende Praktiken, Gesten der Fürsorge, animistische Rituale, Kommunikationsmittel oder als Aktivismus gelesen werden. Nur einmal wird die Gruppe in ihrer Forderung explizit, als sie mit einem selbst gefertigten Banner das (Gletscher)Wasser als umkämpfte Ressource thematisiert. Offenkundig adressiert die Botschaft weniger ein Gegenüber im Film, als uns Betrachtende direkt.
Gemeinsam mit ihren Protagonist:innen spürt die Künstlerin einem vermeintlich anderen, mythologischen und alten Wissen über die Gletscher nach und stellt Spekulationen darüber an, wie sich dieses Wissen für zukünftige Formen des Zusammenlebens und der Verständigung von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren aktivieren lässt.
Das Material des silber-schimmernden Bodenbelags wird beim sogenannten Snowfarming eingesetzt, um Altschnee in den warmen Monaten vor der Sonneneinstrahlung zu schützen und für einen möglichst frühen Start in die Skisaison nützen zu können. Trotz, oder gerade wegen seiner paradoxen Materialität, schafft der Boden eine gemeinsame Basis, einen »common ground«, für die künstlerischen Objekte und betrachtenden Subjekte im Ausstellungsraum. Bei direkter Sonneneinstrahlung erzeugt seine Oberfläche ähnliche Reflexionen wie Eis und Schnee auf dem Gletscher – ein poetischer Effekt, der den gesamten Raum zu animieren vermag.
Text: Georgia Holz
1 T.J. Demos, Against the Anthropocene, Sternberg Press, Berlin 2016, S. 85
Alle Fotos: © Janine Schranz
Die Ausstellung fand im Mz* Baltazar’s Laboratory im Rahmen der Klima Biennale Wien statt.
Die Schneedepotmatten wurden gesponsert von Steinbacher - Dämmt besser. Denkt weiter.
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